Radikalität und Teamwork: ein Widerspruch?
Wie Radical Collaboration den Absturz der Challenger hätte verhindern können
The DiveHive: Eine Organisation, die „schon mal anfängt“. Die nicht auf irgendetwas oder irgendjemanden wartet und schon heute eine neue Arbeits- und Wirtschaftswelt baut. Die das Menschsein in den Mittelpunkt stellt. Ich bin dort Mitglied und nehme immer wieder an unglaublich inspirierenden Workshops teil. So auch Anfang des Jahres, als wir gemeinsam mit Arne Reis, selbstständiger Agile Coach, Transformationsbegleiter und Selbstorganisations-Designer in das Thema Radikalität eintauchten. Das klingt in Bezug auf Teamwork erst einmal widersinnig. Ist es aber nicht. Es geht darum, radikal ehrlich gegenüber sich selbst und seinen Beziehungen im Team zu sein. Und damit Raum für eine bessere Zusammenarbeit zu schaffen. Eine Methode, um das zu erreichen, ist die der „Radical Collaboration“, der radikalen Kollaboration.
Was ist Radical Collaboration?
Radical Collaboration ist ein Ansatz, den ich u.a. in meinen Teamcoachings anwende. Entwickelt wurde er von Jim Tamm, dessen These ist: „You can’t compete externally when you first can’t collaborate internally.“ Sein Buch „Radical Collaboration“ ist übrigens sehr empfehlenswert. Sehr sauber stellt er exemplarisch dar, wie letztlich eine vergiftete Organisationskultur dazu führte, dass die Challenger 1983 explodierte. Ingenieure trauten sich nicht, auf Fehler in der Konstruktion aufmerksam zu machen. In einer anderen, vertrauensvollen Kommunikationskultur hätte dieser Fehler verhindert werden können. In der Historie finden sich zig ähnliche Beispiele und wahrscheinlich hat jeder von uns so eine Situation auch schon einmal selbst erlebt (im positiven wie im negativen Sinne).
Jim Tamm definiert 5 grundlegende Kompetenzen für erfolgreiche Zusammenarbeit im Team:
- Bewusstsein über sich selbst und andere: sich Bedürfnisse, Absichten und Präferenzen aller Beteiligten bewusst machen – gerade in schwierigen zwischenmenschlichen Beziehungen
- Kooperationsbereitschaft: in Beziehungen den beidseitigen Erfolg anstreben und defensives Verhalten vermeiden
- Offenheit: ein ehrliches und offenes Klima schaffen, in dem Menschen sich so sicher fühlen, dass sie schwierige Themen direkt ansprechen können
- Eigenverantwortung: Verantwortung für die Dynamik von Beziehungen sowie die (un)beabsichtigten Konsequenzen des eigenen Handelns übernehmen
- Interessenbasierte Problemlösung: unweigerliche Konflikte so lösen, dass die Interessen beider Parteien gewahrt bleiben und die Beziehung gestärkt wird
Um sich diesen Kompetenzen zu nähern, muss man zunächst wissen, sich selbst und sein Team in der aktuellen Situation einzuordnen. Jim Tamm klassifiziert dafür drei prototypische Organisationskulturen.
Drei prototypische Organisationskulturen
Die Organisationskulturen beschreiben Eigenschaften zur Kollaborationsfähigkeit im Team, eingeteilt in die rote, pinke und die grüne Zone.
Eigene Darstellung in Anlehnung an Jim Tamm
In der roten Zone ist die Zusammenarbeit überwiegend oder fast ausschließlich durch gegenseitiges Misstrauen und Missgunst geprägt – nahezu unmöglich, sich als Teammitglied wohlzufühlen oder gemeinsam ein Ziel zu verfolgen. In der pinken Zone wird es schon etwas besser. Wirklich erstrebenswert ist jedoch die Zusammenarbeit in der grünen Zone. Aber die Frage ist: Wie ordnen Sie sich als Team überhaupt ein? Wie erfahren Sie, in welcher Zone sich Ihr Team befindet?
Beziehungsdynamiken erkennen
Um Beziehungsdynamiken erfolgreich aufzudecken bzw. Sie und Ihr Team in seiner aktuellen Kollaborationsfähigkeit zu beurteilen, hat Jim Tamm eine einfache Lösung gefunden. Er ermöglicht mit einem Fragebogen, die Beziehungsdynamik eines Teams grafisch darzustellen. Die Teammitglieder bewerten die Punkte der roten Zone auf einer Skala mit „trifft voll und ganz zu“ bis „trifft gar nicht zu“.
Eigene Darstellung in Anlehnung an Jim Tamm
Das Ergebnis wird in ein klassisches Koordinatensystem mit x- und y-Achse übertragen. Die y-Achse stellt die Wichtigkeit des abgefragten Faktors für den Teamerfolg dar, die x-Achse in welcher Zone (rot, pink, grün) man sich bei dem Kriterium wiederfindet.
So manche Ergebnisse führen zu anfänglichem Entsetzen bei den Teams. Denn wenn die Teammitglieder offen und ehrlich die Fragen beantworten, werden häufig Beziehungsdynamiken offenbart, die sie unter Umständen nicht erwartet hätten. Aber wie bei so vielem ist Erkenntnis der erste Schritt zur Besserung. Nur wenn man sich Probleme vor Augen hält, kann man daran arbeiten. Nun gilt es also, das Team in die grüne Zone zu führen. Aber wie gelingt das?
Wie führen Sie Ihr Team in die grüne Zone?
Unsere Aufgabe als Coaches ist es, Teams den Weg in eine neue Form der Zusammenarbeit zu ebnen, die auf gegenseitigen Vertrauen basiert. Arne Reis hat folgende Ansätze in Bezug auf die Beziehungsdynamiken entwickelt:
- Aus der grünen Zone zuhören: echtes Interesse zeigen, Aufmerksamkeit fokussieren, eine sichere Umgebung schaffen
- Offenheit von Beginn an vorleben: eine „persönliche Bedienungsanleitung“ schaffen in punkto Persönlichkeit, Werte, Arbeitspräferenzen
- Eigene Absichten klären – Absichten anderer beleuchten: statt andere nach ihrem Verhalten zu beurteilen, beurteilen Sie sie nach ihren Absichten
- Übermäßige Identifikation lösen (helfen): aufzeigen, dass eine einzelne Person nicht das Projekt, die Präsentation oder die Beförderung ist
- Entscheidungsfindung inklusiv und partizipativ gestalten: Feedback von Teammitgliedern einholen (Beratungsprozess) und Beweggründe dahinter verstehen lernen
Folgt man diesen Impulsen, ist man auf einem sehr guten Weg. Im Prinzip beinhalten sie einen offenen und freundlichen Umgang miteinander, bei dem die Perspektiven der unterschiedlichen Teammitglieder berücksichtigt und iterativ und partizipativ Lösungen gefunden werden. Besonders wichtig ist mir an diesem Ansatz, dass jeder für sich Handlungsoptionen entwickelt, mit denen er kritische Beziehung in die grüne Zone bringen kann. Und auch die gemeinsame Erarbeitung von Lösungen für das Team sind für eine nachhaltige Akzeptanz und Umsetzung extrem wichtig: Denn man kommt nicht ans Ziel, wenn die Lösungen durch einzelne Teammitglieder oder face-to-face entwickelt werden. Vielmehr müssen die Lösungen gemeinsam gefunden werden. So definieren wir gemeinsam eine Beziehungsdynamik, die wir Richtung grüne Zone entwickeln möchten. Beim Finden von Lösungsoptionen unterstützen wir uns gegenseitig: Warum ist es dir wichtig, gerade diesen Punkt konstruktiver zu gestalten? Was nimmst du dir vor, um in die Beziehung zu investieren? Wann und wie willst Du das konkret umsetzen?
So finden wir für jeden Punkt, der sich in der roten Zone befindet, Schritt für Schritt einen Weg, ihn in die grüne Zone zu entwickeln. Ergebnis ist eine Teamkonstellation, bei der sich jeder wertgeschätzt fühlt, seine oder ihre Expertise einbringen kann und eine vertrauensvolle Zusammenarbeit entsteht. Nur so ist ein Team fähig, die täglichen Herausforderungen zu bewältigen, den Anforderungen von New bzw. Future Work gewachsen zu sein und seine Ziele zu erreichen.
Und so führt ein ums andere Mal ein inspirierender Workshop zu einem Blogartikel. Impulse von außen sind sehr wertvoll. Welche Erfahrungen haben Sie gemacht? Kennen Sie den Radical Collaboration-Ansatz? Haben Sie schon mal an einem Teamcoaching teilgenommen? Und ist die Neuaufstellung gelungen? Ich freue mich jederzeit über Austausch und andere Erfahrungen. Schreiben Sie mir oder kommentieren Sie diesen Beitrag.
Titelbild: Jeffrey F Lin – Unsplash
Quellen:
Präsentation Arne Reis
Buch „Radical Collaboration“ von Jim Tamm