Herr Bundeskanzler, wie vereinbaren Sie eigentlich Beruf und Familie?

27.02.2022 |

Wie geht es Ihnen bei dieser Frage? Sind Sie irritiert? Vermutlich, denn diese Frage wird eigentlich nur Frauen gestellt. Und: Frauen in Führungspositionen wird diese Frage IMMER NOCH gestellt. Auch Annalena Baerbock musste sie sich schon gefallen lassen. Warum eigentlich? Die Antwort auf diese Frage ist einfach: Unconscious Bias – unbewusste oder unterbewusste Vorurteile. Sie begegnen uns im Alltag, aber auch im Job, mit weitreichenden Folgen für Unternehmen. Aktuelles Beispiel ist der Springer Verlag, dessen Vorstand aus gegebenem Anlass ein Diversity- und Inklusionstraining durchlaufen hat. Ob das ein erster Schritt oder nur Makulatur ist, kann ich nicht beurteilen. Wichtig ist es auf jeden Fall, sich mit den eigenen Vorurteilen und ungerechten Strukturen/Kulturen  auseinanderzusetzen. Steigen wir zunächst mit etwas Theorie und konkreten Beispielen ein!

Was ist Unconscious Bias, wie entsteht sie und wie begegnet sie uns im Alltag?

Unconscious Bias: Das sind Vorurteile, die unbewusst oder unterbewusst entstehen, sei es durch das Elternhaus oder später durch die Gesellschaft. Sie brennen sich in das Gedächtnis ein und werden für eine objektive Wahrheit gehalten. Dass sich Vorurteile ins Gehirn „einbrennen“ hat auch einen neurologischen Hintergrund, aber darauf wollen wir an dieser Stelle nicht näher eingehen.

Unconscious Bias begegnet uns sehr häufig in unserem Alltag. Manchmal passiert dies offensichtlich, man erinnere sich an die Sendung „Der 7. Sinn“, in der noch in den 70er-Jahren auf das vermeintliche Unvermögen von Frauen am Steuer aufmerksam gemacht wurde und Verkehrsteilnehmer regelrecht vor Frauen im Straßenverkehr gewarnt wurden. Heute lachen wir darüber, damals war das die Lebensrealität. Ein anderes Mal kommt Unconscious Bias aber auch weniger offensichtlich daher, z.B. in Märchen, die deutsche Kinder im Fernsehen anschauen. Ist Ihnen schon mal aufgefallen, dass die Helden, Prinzen, Prinzessinnen und Könige immer Weiße sind?

Amerikanische Wissenschaftler:innen haben einen Test mit Kindern gemacht, mit dem traurigen Ergebnis: Positive Eigenschaften ordnen die Kinder Weißen zu, schlechte Eigenschaften Schwarzen oder Dunkelhäutigen. Vorurteile rassistischer Natur haben ihren Ursprung übrigens in der Kolonialisierung. Um die menschenverachtende Behandlung der Schwarzen zu rechtfertigen, verbreitete man den Glauben, es handele sich um minderbemittelte und primitive Menschen – und das geschah über Jahrhunderte. So brannten sich diese Vorurteile über Generationen hinweg in die Köpfe ein. Fragen Sie mal Schwarze, wie häufig sie mit Vorurteilen konfrontiert und zu „Anderen“ gemacht werden. Erst kürzlich wurde eine bekannte Schwarze Schriftstellerin in der Business Class im Flugzeug höflich darauf aufmerksam gemacht, dass die Economy Class weiter hinten sei.

Wie macht sich Unconscious Bias in Unternehmen bemerkbar?

Der Einfluss von unbewussten Vorurteilen auf Unternehmen ist vielfältig. Mit meiner Eingangsfrage habe ich bereits deutlich gemacht, dass die Frage nach Vereinbarkeit von Beruf und Familie Frauen gestellt wird, nicht Männern. Aber es gibt noch schwerwiegendere Folgen von Unconscious Bias in Unternehmen: In Bewerbungsprozessen werden häufig Menschen mit fremd klingenden Namen oder dunkler Hautfarbe benachteiligt. Denken Sie, was das für diese Menschen bedeutet – von Chancengleichheit keine Spur. Auch sitzen immer noch zu wenig Frauen in Führungsetagen. Unabhängig von Ihrer Position im Unternehmen werden Frauen auch immer noch schlechter bezahlt. In den Köpfen ist das Bild eines Mannes auf dem Chefposten vorherrschend, bei Assistenzjobs das einer Frau. Tatsächlich wurde eine Bereichsleiterin in 2020 (vor Corona) bei einem internationalen Meeting gefragt, wann denn der Chef käme: „Die ist schon da!“.

Es ist also auch im Job wichtig, sich unbewusste Vorurteile bewusst zu machen, um überholte, ungerechte und nicht mehr passende Mechanismen und Dynamiken zu verändern. Die Ungleichbehandlung von Frauen beispielsweise wirkt sich im Business auch negativ auf Männer aus – und deren Möglichkeit, eine neue Rolle anzunehmen. Ein Kunde von mir, eine Führungskraft, wurde für arbeitslos gehalten, weil er häufig mittags seine Tochter von der Kita abholt. Das ist ein besonderes Beispiel, in der Regel macht sich Unconscious Bias subtiler bemerkbar, indem Männer zum Beispiel viel Anerkennung erfahren, wenn sie sich um ihre Kinder kümmern. Ich bin auch Mutter, aber ich wurde noch nie gelobt, wenn ich meine Tochter von der Kita abgeholt oder hingebracht habe.

Ich könnte Ihnen unzählige Beispiele nennen, die ich in meinem Arbeitsalltag erlebe. Der Begriff Unconscious Bias bezieht sich natürlich auf alle möglichen unbewussten Vorurteile und Vorannahmen. Die meisten Anknüpfungspunkte habe ich in meiner Arbeit jedoch in der Wahrnehmung von Frauen in Unternehmen.

Welche Folgen hat Unconscious Bias für Unternehmen?

Die Zeiten von Bewerberüberfluss sind vorbei. Auch der wöchentliche Obstkorb und fancy Büros mit Kickertischen reichen nicht mehr. Die künftigen Generationen wollen Haltung. Und sie wollen vielfältigen Austausch mit Menschen, deren Lebenshintergrund ein anderer ist als ihr eigener. Unternehmen tun in Zeiten des Fachkräftemangels und der Zuwanderung also gut daran, der Zufriedenheit der Mitarbeitenden höchste Priorität beizumessen und Vielfalt nicht nur zuzulassen, sondern auch aktiv zu fördern.

Abgesehen davon geht ohne Vielfalt wertvolles Potenzial verloren. Unterschiedliche Denkweisen von Mitarbeitenden verschiedener Geschlechter, Nationalitäten und Generationen fördern kreative Prozesse und tragen zum Erfolg bei. Aber es gibt noch einen weiteren Aspekt, warum es sich lohnt, mit Vorurteilen aufzuräumen. Die Boston Consulting Group hat sich in ihrem BCG Gender Diversity Index Germany von 2020 die Frage gestellt, wie Unternehmen mit Vielfalt an die Spitze kommen. Darin heißt es, dass Unternehmen, die sich nicht um Vielfalt kümmern, auch mit „Druck von anderer Seite rechnen müssen“ – von Investoren, die zunehmend Vielfalt zum Maßstab für ihre Investitionen machen, aber auch von Bewerbenden, für die Diversity eine Selbstverständlichkeit ist.

Es lohnt sich also absolut, sich dem Thema unternehmensweit und ernsthaft zu widmen und Priorität einzuräumen. Aber wie macht man das als Unternehmen?

Strategien zum Umgang mit UB in Unternehmen

Mit Ihrem Willen, mit Unconscious Bias in Ihrem Unternehmen aufräumen zu wollen, haben Sie den ersten entscheidenden Schritt bereits getan. Denn Sie selbst haben die Wichtigkeit des Themas erkannt und haben so die Möglichkeit, es im Unternehmen zu etablieren. Um langfristig auf allen Unternehmensebenen Unconscious Bias  bewusst zu machen, als Thema zu etablieren und Vielfalt in der Unternehmenskultur zu verankern, empfehle ich Ihnen folgende Schritte:

  1. Schaffen Sie Bewusstsein für Unconscious Bias, sensibilisieren Sie im Unternehmen dafür.
  2. Lassen Sie Debatte zu: Ohne die Debatte darüber gibt es keinen Fortschritt. Hätte es in den 80er-Jahren keine breite Debatte über Homosexualität gegeben, würden wir heute – wie unsere Großeltern noch vor 40 Jahren – „in Ohnmacht fallen“, wenn Homosexuelle im Fernsehen zu sehen sind.
  3. Handeln Sie nicht aus politischem oder gesellschaftlichem Druck. Haltung und Vielfalt müssen auf möglichst breiter und vielfältiger Ebene gemeinsam erarbeitet und im Unternehmen gelebt werden. Dazu gehört auch die Anpassung der Sprache – sie trägt einen Großteil zu Veränderung bei.
  4. Reduzieren Sie Ihre Bemühungen nicht nur auf die Führungsebene, Unconscious Bias geht alle im Unternehmen an. Aber: Sie sind das Vorbild und müssen den reflektierenden Umgang damit vorleben.
  5. Sorgen Sie dafür, dass Unconscious Bias und Vielfalt nicht nur im Unternehmen gelebt werden, sondern auch mit Geschäftspartner:innen und Kund:innen.
  6. Stellen Sie Ihren Bewerbungsprozess auf den Prüfstand, von der Stellenbeschreibung über den Auswahlprozess (hier hilft oft ein anonymisiertes Bewerbungsverfahren) und das Bewerbungsgespräch. Ich bin bekennende Freundin der Quote: Sorgen Sie z.B. für einen Anteil von 50 % Frauen als Auszubildende!
  7. Überprüfen Sie Bildmaterial und alle gesprochenen oder geschriebenen Texte des Unternehmens – drücken sie Vielfalt aus?
  8. Sorgen Sie für gleichberechtigte Bezahlung und mehr Frauenanteil (gern mit Quote). Damit gehen Sie einen ersten großen Schritt.
  9. Hauen Sie gerne raus, dass Sie bekennender Feminist sind – oder sind Sie etwa gegen die Gleichbehandlung von Frauen und Männern?

Oft empfiehlt es sich, den Prozess zu mehr Vielfalt im Unternehmen und der Eliminierung bzw. Reflexion von unbewussten Vorurteilen von Externen begleiten zu lassen. Zum einen fällt es externen Experten leichter, Aspekte von Unconscious Bias zu erkennen und darauf aufmerksam zu machen, zum anderen nehmen sie die Angriffsfläche von einzelnen Personen im Unternehmen. Bedenken Sie, dass in dem Prozess durchaus sensible Themen behandelt werden. Ich persönlich gehe mit meinen Kundinnen und Kunden nach meinem MOVE-Modell vor, sehen Sie hier:

Die Grafik zeigt das von Charlotte Heidsiek entwickelte Move-Modell. Die Buchstaben stehen für M = Mindset, O = Orientierung, V = Veränderung, E = Entwicklung.

Quelle: Charlotte Heidsiek – Strategie zum Umgang mit Unconscious Bias in Unternehmen

Auf Unsconscious Bias angewandt sieht das MOVE-Modell dann so aus:

Status Quo: Wo stehen wir bei Unsconscious Bias, wo macht Sie sich bemerkbar und wo wollen wir hin?

  1. Wir schaffen Bewusstsein für unbewusste Vorurteile und regen zu Debatten an.
  2. Wir kreieren Haltung zu Unconscious Bias und definieren eine Strategie.
  3. Wir wenden unsere Strategie intern an, schaffen neue Prozesse und definieren unsere Außenwirkung.
  4. Wir setzen Maßnahmen zur Erreichung unserer Ziele um, z.B. mehr Vielfalt, Gleichberechtigung, Transparenz, Bewerbungsmanagement.

Zielperspektive: Wir blicken zurück: Was haben wir auf unserem Weg erreicht, welche Punkte sind noch offen? Was sind unsere nächsten Schritte?

Einen wichtigen Punkt möchte ich dazu nochmal hervorheben: Es geht nur gemeinsam! Wer Vielfalt im Unternehmen etablieren möchte, muss vielfältigen Input erhalten, damit Vielfalt von allen im Unternehmen auch gelebt wird.

Mein Fazit zum Thema Unconscious Bias

Ich persönlich denke: Veränderung hat es schon immer gegeben. Wir haben schon viel erreicht in Bezug auf Rassismus, Vielfalt und die Rechte von Frauen. Nun stehen wir vor dem nächsten Schritt: Mit unbewussten Vorurteilen aufzuräumen. Nur so schaffen wir es, mit alten Mustern zu brechen und das Bild des weißen, männlichen Chefs aus den Köpfen zu verbannen. Eine große Rolle spielt dabei in Unternehmen auch die Gleichberechtigung von Frauen und die systematische Erhöhung des Frauenanteils in Unternehmen. Dazu empfehle ich Ihnen meinen Artikel Mehr Frauen ins Management.

Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten, dass niemand mehr irritiert ist, wenn einem Mann die Frage nach der Vereinbarkeit von Familie und Beruf gestellt wird. Und nur um korrekt zu sein: Unser Bundeskanzler Scholz hat keine Kinder. Kommen Sie gerne mit Ihren Gedanken oder sogar bereits dem festen Willen, etwas in Ihrem Unternehmen zu verändern, auf mich zu!

 

Höchste Anerkennung an dieser Stelle für Tupoka Ogette, von der ich einige Beispiele von Unconscious Bias in Bezug auf Rassismus in diesen Artikel eingebracht habe. Ihr Buch „Exit Racism“ ist sehr empfehlenswert.

Titelbild: Sandy Millar, Unsplash

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